Junge Welt, 11.05.2015

"Über die Gartenhecke"
Friedolin Tieger

"Blick aus einem Fenster mit Stores davor: Man sieht ein Doppelhaus, dessen originellstes Element der Schornstein ist. Die folgende Luftaufnahme zeigt die Nähe zu einem Industriegebiet: Salzgitter. Die Bilder stehen am Anfang von »Schicht« von Alex Gerbaulet, die damit bei den am Dienstag in Oberhausen beendeten Internationalen Kurzfilmtagen den deutschen Wettbewerb gewonnen hat. »Schicht« verbindet die Familiengeschichte der Filmemacherin mit einem Ausloten verdrängter Teile der deutschen Vergangenheit am Beispiel der niedersächsischen Industriestadt. Gerbaulet schichtet Medienbilder und Familienfotos, mit einem präzisen Kommentarton versehen, zu einem Bodenprofil bundesdeutscher Wirklichkeit.

»Paradies« vom Basler Videokünstler Max Philipp Schmid, der den internationalen Wettbewerb in Oberhausen eröffnete, nähert sich seinem Thema auf ganz andere Weise. Schmids Film folgt der Gartenhecke durch die Geschichte: von der Vorstellung des Paradieses als – so die wörtliche Bedeutung – »umgrenzter Bereich« bis zu den Selbstabgrenzungen der Gegenwart. Die Hecke als Ursprung der Grenze. Schmids Film führt mit einem angenehm verschrobenen Humor die ganze Kleinbürgerlichkeit der Grenzzieher vor Augen.

»Schicht« und »Paradies« waren zwei Beispiele einer ganzen Reihe von Filmen beim diesjährigen Festival, die sich ihren Themen aus unerwarteter Perspektive näherten. Während sich Seherwartung und filmische Gestaltung in den meisten Spielfilmen in einem endlosen Kreislauf gegenseitig selbst bestätigen, war hier die Bandbreite der filmischen Ansätze unüberschaubar: von »moon blink«, einer computergenerierten Arbeit Rainer Kohlbergers, in der sich ein Bild horizontaler Linien zunehmend auflöst, über Blake Williams, der in »Red Capriccio« in endlos flackernden 3-D-Bildern von einem Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht auf einer nächtlichen Straße den aktuellen 3D-Hype ins Absurde kippen lässt, bis zu klassischeren Ansätzen wie in der DFFB-Produktion »Wada« von Khaled Mzher oder Eva Könnemanns »Das offenbare Geheimnis«. Mzhers Film zeigt die Fernwirkungen des andauernden Bürgerkriegs in Syrien auf einen Familienvater, der seit 30 Jahren in Berlin lebt. Das Verschwinden eines Angehörigen lässt seine Welt zusammenstürzen. Könnemanns »Das offenbare Geheimnis« porträtiert das kleine Emmelsum in NRW. Neugierig gemacht von einem Satz auf der Website Emmelsums (»Über den Ort Emmelsum lässt sich nicht allzuviel sagen«) begibt sich die Filmemacherin auf die Suche nach dem Besonderen im Alltäglichen. Nach Außenaufnahmen im Ort gewinnt sie allmählich das Vertrauen der Einwohner.

Neben dem internationalen und dem deutschen Wettbewerb befasste sich eine Themenreihe mit den Möglichkeiten der 3-D-Technik. Verleihe und Archive zeigten Programme aus ihrem Bestand, Podiumsdiskussionen gingen Fragen der Filmproduktion, der künftigen Rolle analoger Filmtechnik und der Zukunft des Kinos nach. Zudem widmeten die Kurzfilmtage auch in diesem Jahr einer Reihe von Experimentalfilmern persönliche Profile. In jeweils ein bis drei Programmen waren ältere und aktuelle Filme von William Raban, Vipin Vijay, Erkka Nissinen, Ito Takashi und Jennifer Reeder zu sehen.

Zusammen mit Ito Takashis Beitrag zum internationalen Wettbewerb »Saigo no Tenshi« (Letzter Engel) zeigten die Programme mit Itos älteren Arbeiten Werke aus fast 40 Jahren japanischer Experimentalfilmgeschichte. Ito realisierte seit den späten 1970er Jahren Experimentalfilme und begann mit strukturalistischen Arbeiten. Die 1980er Jahre hindurch erforschte er Architektur und Räumlichkeit im Film und wandte sich ab den 1990er Jahren zunehmend narrativeren Formen zu, die sich durch ihre anregend verwirrenden Beziehungen zwischen den Figuren auszeichnen. Itos vorletzter Film »Amai Seikatsu« (Süßes Leben) zeigt zwei Frauen, die eine jünger, trotzig und stets mit einem Vorschlaghammer unterwegs, die andere etwas älter im eleganten schwarzen Kostüm. Den gesamten Film hindurch kreuzen und trennen sich die Wege der beiden, ohne dass es zu einem wirklichen Kontakt kommt. Itos neuster Film »Saigo no Tenshi« hat gleich vier Protagonisten und lässt diese in einer ähnlichen Struktur wie in »Amai Seikatsu« umeinander kreisen und webt so ein Geflecht aus Wünschen und Ängsten.

Itos Umgang mit Narration ist ein gutes Beispiel für die Rolle, die Kurzfilme spielen können: Als Laboratorium für Techniken und Ästhetiken sind sie unersetzbar. Der finanzielle und logistische Aufwand für Langfilme machen diese allzu oft zu schwerfällig für das Experimentieren, sie wirken dann überkontrolliert.

Itos langjährige Kurzfilmarbeit macht jedoch zugleich klar, dass Kurzfilme mehr sind als Stilübungen auf halbem Weg zum Langfilm. Hier zeigte sich auch auf den Kurzfilmtagen ein wichtiger Unterschied mit Blick auf den Entstehungskontext: Während einige Hochschulproduktionen wie das filmgewordene Pitching für die Förderung des ersten Langfilms aussahen, hatten sich die Regisseure der unabhängig produzierten Filme erkennbar bewusst für das Format des Kurzfilms entschieden. Es braucht Festivals wie das in Oberhausen, um die Vielfalt filmischer Formen im Kinoalltag wenigstens als Möglichkeitsform präsent zu halten. Auf dass die Arte Povera des Kurzfilms dem Kino den bedachten Einsatz seiner Mittel wiedergeben möge."